Nestlé ist unverwüstlich: Der größte Nahrungsmittelkonzern der Welt hat noch jede Krise gemeistert. Anlegern gefällt das.
Wenn ein Anleger wissen will, was der Nahrungsmittelkonzern Nestlé eigentlich alles macht und was von ihm zu halten ist, dann hat er verschiedene Möglichkeiten. Der Anleger kann sich in den soliden Geschäftsbericht von 2019 vertiefen, er kann Zahlen und Zitate zum erfolgreichen ersten Quartal dieses Jahres nachlesen, er kann sich vielfältige Einschätzungen von Experten und anderen Investoren anhören. Und er kann in den nächstgelegenen Supermarkt gehen und sich eine Packung Cheerios kaufen. Cheerios, zur Erklärung, sind knusprige Vollkornkringel, die von gesundheitsbewussten Eltern gerne zum Frühstück aufgetischt werden. Und sie sind bestens dazu geeignet, Nestlés neue Geschäftspolitik zu veranschaulichen: hochwertige Produkte zu gehobenen Preisen, möglichst viel Bio und eher wenig Zucker, und zum Genuss gibt’s als Bonus noch ein gutes Gewissen. Denn wer die neuen Bio-Cheerios kauft, trägt zu gleich zur Rettung der bedrohten Wildbienen bei. 10 Cent je Packung kommen der Umweltinitiative „Deutschland summt!“ zugute, die Nisthilfen für 150000 Bienen herrichtet. Und auch bei den altbekannten Schokolinsen ist Nestlés Marketing auf die Biene gekommen: Wer die neuen Smarties namens „Smart Bees“ verputzt, trägt eben falls seinen Teil zur Artenvielfalt bei.
Der größte Nahrungsmittelkonzern der Welt ist in der Vergangenheit oft von Naturschützern angeprangert worden: weil er auch dort Wasser abpumpt, wo es knapp ist wie in Afrika, weil er für Süßigkeiten Palmöl verwendet und so die Abholzung des Regenwaldes vorantreibt, weil er Tierversuche mit Mäusen für seine Kosmetikprodukte duldet. Aber inzwischen zeigt sich der Schweizer Konzern zunehmend auf der ökologischen Höhe der Zeit. „Der Kulturwandel hinsichtlich Nachhaltigkeit hat das ganze Unternehmen erfasst“, sagt Uwe Rathausky, der mit seinem Kollegen Henrik Muhle den Acatis Gané Value Event Fonds verwaltet. Darin findet sich auch eine ansehnliche Anzahl von Nestlé-Aktien.
Der Wandel zeigt sich an vielen Neuerungen: deutliche Angaben zum Nährwert (Nutri-Score) auf den Lebensmittelverpackungen, nachfüllbare Behältnisse für Katzenfutter und Coffee-to-go, immer mehr Burger, Bratwürste und Schnitzel auf pflanzlicher Basis, und von Juni an gibt es Nescafé sogar in zwei veganen Latte-Varianten. „Nestlé stellt sich auf die veränderten Konsumgewohnheiten gut ein“, sagt Rathausky: „Das Unternehmen hat die Zeichen erkannt und entwickelt sich mit vielen Innovationen zu einem Produktanbieter, der Wellness und Gesundheit mehr und mehr in den Vordergrund rückt.“
Das, was Nestlé den Kunden zu bieten hat, mag sich gewandelt haben. Doch aus Sicht der Anleger ist das Unternehmen seit Jahrzehnten dasselbe geblieben: grundsolide und verlässlich, stets mit ordentlichen Geschäftsergebnissen und immer viel Geld in der Kasse. Spötter mit Zocker-Gen sagen: Nestlé sei reich, aber unsexy. Nestlé kann allein schon wegen seiner schieren Größe Krisen und Kritik ziemlich schadlos wegstecken. In 187 Ländern verkauft der größte Nahrungsmittelkonzern der Welt insgesamt mehr als eine Milliarde Produkte täglich. Gegessen und getrunken werde immer, auch in Krisen, so das ebenso einfache wie einleuchtende Anleger-Argument. Zudem sind Nestlés Gewinnspannen in vielen Produktkategorien hoch, weil der Konzern über starke Marken verfügt und hohe Marktanteile hat. Im Schnitt aller Produktkategorien lag die Marge im vergangenen Jahr bei 17,6 Prozent. Bei Kaffee und Kaffeepulver war sie deutlich höher, beim Wasser deutlich niedriger.
In der Corona-Krise hat sich gezeigt, wie sich ein derart solides Unternehmen, das Investoren gerne als defensiven Wert einstufen, zu behaupten weiß. Das Absatz plus fiel in den ersten drei Monaten überraschend stark aus, weil sich Europäer und Amerikaner angesichts der Kontaktsperren im März mit Vorräten eindeckten. Gehamstert wurden vor allem Fertiggerichte, Kaffee und Gesundheitsprodukte. Dass der Umsatz trotzdem insgesamt zurückging, lag am starken Franken und dem Kauf und Verkauf von Unternehmensteilen. Der Nestlé-Aktienkurs, im Corona-Crash Mitte Februar mit in die Tiefe gerissen, steht mittlerweile wieder fast so hoch wie zu Jahresbeginn. Anders als andere Unternehmen steht Nestlé vorerst zu seinen ausgegebenen Jahreszielen. In der 154-jährigen Geschichte habe das Unternehmen schon viele Herausforderungen überstanden, kommentierte Vorstandschef Mark Schneider die Quartalszahlen. Man sei zuversichtlich, dass es auch diesmal gelinge. Kein Wunder, dass Investoren Nestlé als „Fels in der Brandung“ oder „Anker der Stabilität“ feiern. Die Analysten sind sich weitgehend einig: Nur 3 von 33 raten zum Verkauf der Aktie, die ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von 24 hat und damit teuer erscheint für einen defensiven Wert. Als Vertreter des nichtzyklischen Konsums stehe Nestlé – wie die Gesundheits- und Kommunikationsbranche – für „gute Ergebnisperspektiven und stabile Dividenden“, sagt Aktienexperte Benjardin Gärtner von der Fondsgesellschaft Union Investment. Nestlé versteht es, Anleger zu verwöhnen. Im Gegensatz zu anderen Unternehmen, die in diesen schwierigen Zeiten die Ausschüttung kürzen oder gar streichen, bleiben die Schweizer ihrem Ruf als sogenannter Dividendenaristokrat treu: Zum 25. Mal nach einander hat Nestlé im April die Dividende erhöht, innerhalb eines Jahrzehnts hat sie sich auf 2,70 Franken je Aktie nahezu verdoppelt. Zudem hat der Konzern seinen Aktienkurs stark unterstützt, indem er drei Jahre lang bis Ende 2019 eigene Anteile im Wert von 20 Milliarden Franken zurückkaufte. Ein neues Rückkaufprogramm, das den gleichen Umfang und die gleiche Laufzeit haben soll, ist zu Anfang dieses Jahres gestartet. Vom Rekordhoch im vergangenen September, dem eine Rally von 50 Prozent binnen 15 Monaten vorangegangen war, ist der Kurs derzeit den noch ein Drittel entfernt. „Unter normalen Kapitalmarktumständen wäre Nestlé ausgepreist, wie wir Fondsmanager das nennen, und weitere Kursanstiege wären nicht zu erwarten“, sagt Rathausky, der die Nestlé-Anteile in seinem Fonds unlängst reduziert hat. Dass andere Anleger die dividendenstarke Aktie weiter sehr zu schätzen wissen, liegt an den mickrigen Zinsen, die es sonst gibt.
In den vergangenen zwei Jahren haben Anleger einige Häutungen honoriert, die Schneider im Konzern vorangetrieben hat. Seit der lang jährige Chef des Gesundheitskonzerns Fresenius Anfang 2017 zum Nestlé-CEO wurde, spielen Fleisch, Süßwaren und Tiefkühlpizza eine immer geringere Rolle. Kaffee, Tierfutter und Erzeugnisse auf Pflanzenbasis gehören die Zukunft. Fleischersatzprodukte sind für Schneider eine geschäftliche Chance, wie sie nur alle Jubeljahre mal vorkommt. Unter Schneiders Ägide hat Nestlé rund 50 Transaktionen vollendet. Von ein paar größeren Marken und Beteiligungen trennten sich die Schweizer, beispielsweise von der Hautpflegesparte und vom amerikanischen Speiseeisgeschäft. Der Verkauf des 60-prozentigen Anteils an der Fleisch- und Wurstmarke Herta wird in Kürze abgeschlossen. Dagegen weigert sich Schneider trotz des Drucks von Investoren wie Staranleger Daniel Loeb standhaft, den 23-prozentigen Anteil am französischen Kosmetikkonzern L’Oréal zu verkaufen. Erworben wurden dagegen ein paar kleinere Marken, vorrangig aus der Veggie-Ecke. Insgesamt hat Nestlé unter Schneider 25 Milliarden Franken für An- und Verkäufe bewegt. Der Konzernumbau hat bis lang noch nicht zum gewünschten Erfolg geführt: Das für 2020 angepeilte Umsatzwachstum von vier bis sechs Prozent hat Schneider auf nächstes oder übernächstes Jahr verschieben müssen; im vergangenen Jahr wuchsen die Erlöse um 3,5 Prozent, im zurückliegenden Quartal um 4,3 Prozent. Immerhin setze sich „der Umsatz heute bereits hochwertiger zusammen“, sagt Rathausky. Kaffee, Wasser, Babynahrung und Tierfutter versprechen gutes Gewinnwachstum. Die Frage ist, ob der Trend zu gesunden und regionalen Produkten die Krise übersteht. Oder ob Menschen angesichts einer Rezession und womöglich der Angst um den Arbeitsplatz am Essen sparen. Für Anleger ist es gar nicht mehr so leicht, an Nestlé-Aktien zu kommen. Weil sich die Europäische Union und die Schweiz nicht auf einen neuen Rahmenvertrag einigen konnten und ihr Scharmützel auf die Börsen ausweiteten, sind Schweizer Aktien bis auf weiteres vom Handel in der EU ausgesetzt. Anleger müssen auf den außerbörslichen Handel ausweichen, was bei Direktbanken wie der ING Deutschland und Comdirect über Makler möglich ist.