Das kalte Wetter, die hoch ansteckende Delta-Variante und eine zu niedrige Impfquote haben dazu geführt, dass in Europa die Corona-Infektionszahlen und die Hospitalisierungsrate dramatisch ansteigen. Vor ein paar Wochen diskutierte Deutschland noch über das offizielle Ende der Pandemie. Nun sehen sich die Niederlande bereits wieder gezwungen, Gastronomie, Geschäfte und Sportstätten zu schließen. Österreich befindet sich im vierten Lockdown und plant die Einführung einer Impfpflicht. In Deutschland lassen die sprunghaft steigende Zahl an Intensivpatienten und die beginnende Überlastung des Gesundheitssystems Rufe nach schärferen Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens lauter werden. Viele Marktteilnehmer fühlen sich bereits wieder an den Lockdown aus dem Frühjahr 2020 zurückerinnert. Ihm ging ein dramatischer Börsencrash voraus und die weltweiten Einschränkungen hatten die schärfste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg zur Folge. Und heute? Beendet die vierte Welle möglicherweise die aktuelle Börsen-Party?

Unseres Erachtens nein, vorausgesetzt, das Corona-Virus entwickelt keine dramatischen Mutationen, denn eine globale wirtschaftliche Vollbremsung, wie sie mit dem Ausbruch der Pandemie einherging, ist heute nicht mehr zu erwarten. Große Unterschiede im internationalen Infektionsgeschehen und bei den Impfquoten erlauben mittlerweile gezielte Maßnahmen, die für die Aktienmärkte deutlich einfacher zu verarbeiten sind. So weisen zum Beispiel Portugal und Spanien mit über 80 Prozent eine hohe Quote der vollständig Geimpften auf. Deutschland hinkt mit 68 Prozent noch hinterher. Zusätzlich liegt die historische Infektionsrate der portugiesischen Bevölkerung mit elf Prozent nahezu auf dem doppelten Niveau Deutschlands. Entsprechend fällt der Anteil der Genesenen in Portugal höher aus. Kein Wunder also, dass die 7-Tage-Inzidenz mit 94 für Spanien und 171 für Portugal weiter unter dem Niveau Deutschlands (419) oder Österreichs (1.049) liegt. Im Ergebnis lässt die aktuelle Datenlage schärfere Maßnahmen nur vereinzelt erwarten. Das Wirtschaftswachstum dürfte allenfalls punktuell belastet, aber nicht mehr flächendeckend ausgebremst werden. Zudem handelt die Börse bekanntermaßen die Zukunft. Deshalb reduzieren weitere Fortschritte bei der Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen die Wahrscheinlichkeit eines pandemiebedingt dramatischen Kursrutsches. Besonders vielversprechend ist Pfizers antivirale Tablette. Sie soll das Hospitalisierungsrisiko um 90 Prozent senken. Damit läge die Wirksamkeit weit über dem bereits in Großbritannien zugelassenen Merck-Präparat „Molnupiravir“, das die Wahrscheinlichkeit einer Hospitalisierung um immerhin 50 Prozent senkt. Es dürfte nicht mehr lange dauern, bis die Medikamente auch in den USA und Europa verfügbar sind. Zusätzlich beschleunigte Corona die digitale Transformation. Unternehmen sind IT-seitig gewappnet, sollte die Pandemie länger anhalten.

Entscheidend für die künftige Börsenentwicklung ist neben der lieferkettenbedingten Inflationsbeschleunigung die Politik der Zentralbanken. FED und EZB haben mehrfach ihre Flexibilität im Verlauf der Pandemie betont. Eine Verknappung der US-Geldmenge durch Reduzierung der monatlichen Anleihekäufe, das so genannte „Tapering“, hat für die globalen Aktienmärkte eine größere Bedeutung als punktuelle Lockdown-Maßnahmen in Europa. Dementsprechend ist für GANÉ die Normalisierung der Geldpolitik der wichtigste Börsenfaktor.

Autor:
Marcus Huettinger Kapitalmarktstratege
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